Sisyphos und das Los

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Menschen fällt es schwer, den Zufall als Ursache zu akzeptieren.

Der Mensch will nicht akzeptieren, dass der Zufall sein Leben bestimmt. Er will ihn beherrschen, und er glaubt seinem Ziel inzwischen sehr nah zu sein. Doch erstens kann er das Ziel nie erreichen, und zweitens kann er das auch gar nicht wollen. 

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hatte als junger Psychologe bei der israelischen Armee einmal die Aufgabe, den Einstellungstest zu verbessern. Bisher hatten Wehrpflichtige die Bewerber eine Viertelstunde lang befragt, sich einen allgemeinen Eindruck verschafft und am Ende ein Urteil gefällt. Doch es hatte sich gezeigt, dass mit den Ergebnissen nicht viel anzufangen war. Man hätte ebenso gut würfeln können.

Kahneman sollte die Prognose verlässlicher machen. Er entwarf einen Fragebogen, mit dem er versuchte, sechs objektive Persönlichkeitsmerkmale der Rekruten zu bestimmen. Ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Umgänglichkeit oder ihren männlichen Stolz. Kahneman formulierte einfache Fragen. Die Merkmale ließ er mit Punkten bewerten. Aus ihnen berechnete er einen Gesamtwert.

Ein paar Monate später zeigte sich, die Ergebnisse waren deutlich verlässlicher. Kahnemans Vermutung hatte sich bestätigt. In dieser Frage war die Statistik der menschlichen Intuition überlegen. Der Algorithmus gewann gegen die Erfahrung – der Mensch gegen den Zufall. 

Viereinhalb Billionen Gigabyte

Daniel Kahneman beschreibt dieses Erlebnis in seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“, das von den Fallen handelt, die das Gehirn dem Menschen stellt. Vor allem die Intuition ist sehr anfällig. 

Seit Kahnemans Zeit bei der Armee sind über 50 Jahre vergangen. Der Algorithmus ist immer mächtiger geworden. Er schöpft seine Kraft aus den Daten und der Rechenleistung von Computern, und beides wächst in einem atemberaubenden Tempo. 

Man findet noch Begriffe für die Menge der Daten, aber die Vorstellung ist längst verloren gegangen. Viereinhalb Trilliarden Bytes soll es weltweit geben. Viereinhalb Billionen Gigabyte. Viereinbalb Zettabyte. Eine Zahl mit 21 Nullen. In den nächsten fünf Jahren soll sie sich verzehnfachen.

Das Datenuniversum ist so groß geworden, dass auch Algorithmen an ihre Grenzen stoßen. Aber sie erschließen sich immer größere Gebiete, und sie sind mehr und mehr in der Lage, scheinbar unerklärliche Dinge zu erklären.

Der Mensch hofft, dass sie ein kleines Fenster in die Zukunft öffnen, das Leben berechenbarer machen und dem Zufall seinen Schrecken nehmen. Wo der Zufall wirkt, herrscht Unsicherheit, und das kann der Mensch nicht ertragen. 

Der Laplacesche Dämon

Von Zufällen spricht der Mensch immer dann, wenn etwas passiert, aber keine Ursache zu erkennen ist. Das kann zwei Möglichkeiten haben. Entweder die Ursache ist tatsächlich nur nicht zu erkennen, oder es gibt keine. 

Die zweite Möglichkeit hielt der Mensch bis vor 90 Jahren für ausgeschlossen, denn das Universum stellte er sich wie ein Uhrwerk vor.

Der Mathematiker Pierre-Simon Laplace formulierte im 18. Jahrhundert den Gedanken, dass ein mit allen Naturgesetzen und Kräften vertrautes Wesen (der Laplacesche Dämon) theoretisch in der Lage sein müsste, alles zu berechnen, was jemals auf derWelt passieren wird. 

Albert Einstein sah das noch ganz ähnlich. Er beschrieb sein Weltbild mit den Worten: „Gott würfelt nicht.“ An echten Zufall glaubte er nicht.

Die Quantenphysik hat das in Frage gestellt. In den kleinsten Sphären gibt es offenbar keine Regeln, die der Mensch sich erschließen könnte. 

Wirft man einen Stein in die Luft, lässt sich anhand seiner Geschwindigkeit und der Gesetze der Schwerkraft relativ genau vorhersagen, wo er landen wird. In der Sphäre der Elementarteilchen ist das nicht möglich, weil sich nicht mal der Ort und die Geschwindigkeit des Teilchens gleichzeitig bestimmen lassen. 

Der Mensch kann nicht alles berechnen

Diese Entdeckung des Physikers Werner Heisenberg, die nach ihm benannte Heisenbergsche Unschärfe-Relation hat den Blick auf die Welt verändert. Sie hat gezeigt: Der Mensch kann nicht alles berechnen. Auch theoretisch nicht. An dieser Erkenntnis gibt es kaum Zweifel.

Es gibt Modelle, die annehmen: Da sind Variablen dahinter, die wir noch nicht genau kennen. Aber es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Modelle richtig sind“, sagt der Mathematiker Matthias Löwe von der Universität Münster.

Löwe erforscht Formeln, die den Zufall beschreiben, was zunächst paradox klingt, denn ein Wesensmerkmal des Zufalls ist ja gerade, dass er Ergebnisse ohne jede Ordnung hervorbringt. Doch der Eindruck täuscht.

Anfangs stiftet der Zufall heilloses Chaos, aber je länger man ihn wirken lässt, desto deutlicher wird eine Ordnung sichtbar.

Es ist nicht so, dass ich bei einem Zufallsexperiment sagen könnte, was passiert. Da bin ich genauso ratlos wie jeder andere. Aber langfristig kann man eine Struktur entdecken. Das ist das Gesetz der großen Zahl. Und ohne das gäbe es keine Wahrscheinlichkeitsrechnung„, sagt Löwe.

Schwarze Schwäne

Der Zufall produziert Gleichmäßigkeit, und das nutzt der Mensch für seine Prognosen. Sein Gehirn macht ihm das nicht gerade leicht. Es kann Wahrscheinlichkeiten nur schwer einschätzen, vor allem, wenn mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Ereignisse, die sehr unwahrscheinlich sind, ignoriert es. 

Unglücklicherweise haben genau diese Ereignisse oft die größten Auswirkungen. Der Finanzmathematiker und Philosoph Nassim Nicholas Taleb nennt sie Schwarze Schwäne. Der Name geht darauf zurück, dass die Existenz dieser Tiere in Europa lange für unmöglich gehalten wurde – bis irgendwer sie ihn Australien entdeckte. 

Die Kühlsysteme der Kernkraftwerke in Fukushima zum Beispiel hätten ein Erdbeben der Stärke 8 ausgehalten. Mit einem stärkeren hatte niemand gerechnet. Dann kam das Tōhoku-Erdbeben im März 2011, das die japanische Ostküste verwüstete. Die Seismographen meldeten: Stärke 9.

Im Rückblick erscheint oft alles so offensichtlich, dass man sich fragt, wie überhaupt irgendwer die Zeichen falsch deuten konnte. Aber man vergisst, dass vorher gar nicht klar war, welche der zahllosen Signale eine Bedeutung haben würden.

Die Ursache ist oft auch gar nicht eindeutig. Als Auslöser der letzten Weltwirtschaftskrise gilt der Kollaps auf dem Subprime-Immobilienmarkt. Tatsächlich führten eine lange Reihe von unglücklichen Umständen in die Rezession. Darunter waren viele Zufälle. 

Die Suche nach dem Sinn

Dem Gehirn fällt es schwer, den Zufall als Ursache zu akzeptieren. Es ist immer auf der Suche nach einem Sinn. Es denkt in kausalen Zusammenhängen, und es stellt sie her, wo es nur geht. Sagt jemand „Dachrinne“ und „gebrochenes Bein„, denkt der Mensch: Jemand muss von der Leiter gefallen sein. 

Die selektive Wahrnehmung, also der Hang, nur das zu sehen, was ins Bild passt, zählt zu den wichtigsten Tricks des Gehirns, den Zufall zu leugnen„, schreibt der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein ins seinem Buch „Alles Zufall – die Kraft, die unser Leben bestimmt„.

Der Mensch macht sich die Welt begreifbar, in dem er einfache Zusammenhänge konstruiert. Er denkt in überschaubaren Modellen, aber die können nicht alles erklären.

Dass wir Ausreißer nicht vorhersagen können, bedeutet angesichts ihres großen Anteils an der Dynamik der Ereignisse, dass wir den Lauf der Geschichte nicht vorhersagen können“, schreibt Taleb in seinem Buch „Der Schwarze Schwan„. Wenn die Einflussfaktoren überschaubar sind, gelingen dem Menschen dagegen ganz erstaunliche Prognosen

Algorithmen sagen heute zuverlässig voraus, wie lange Krebs-Patienten noch zu leben haben, welche Kinder für den frühen Kindstod anfällig sind. Sie können abschätzen, wer seine Kredite zurückzahlt oder wie wertvoll Bordeaux-Weine einmal werden. 

Restunsicherheit bleibt immer

Im Jahr 2012 ist es drei Informatik-Studenten aus Birmingham gelungen, mithilfe von Smartphone-Daten zu bestimmen, an welchen Orten Menschen sich zu bestimmten Zeitpunkten aufhalten werden. Die Algorithmen haben Verhaltensmuster identifiziert, und das Leben vieler Menschen ist sehr stark von Gewohnheiten geprägt. 

Doch letztlich ist eine Prognose nur eine Schätzung auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten. Jemand kann seit Jahrzehnten jeden Montagmorgen pünktlich um 9 Uhr in seinem Büro am Schreibtisch sitzen. Wenn er dann aber an einem Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit auf einer Bananenschale ausrutscht und um 9 Uhr im Krankenhaus sitzt, kann das kein Algorithmus ahnen.

Eine Restunsicherheit bleibt immer. Sie wird sich nie ganz ausschalten lassen, und daraus ergibt sich die Gefahr, dass Algorithmen verhängnisvolle Schlüsse ziehen.

In mehreren amerikanischen Gefängnissen sind Software-Programme im Einsatz, die einschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Gefangener wieder in eine Straftat verwickelt werden wird. Kommt die Software zu dem Ergebnis, dass davon auszugehen ist, bleibt der Häftling im Gefängnis. Er wird für ein Verbrechen bestraft, das er noch gar nicht begangenen hat und möglicherweise nie begehen wird.

Algorithmen werden nie menschlich 

Der nächste Schritt wäre, freie Menschen aus Risikogruppen im Namen der Sicherheit zu inhaftieren. Und in Zeiten von Terroranschlägen erscheint der Gedanke noch nicht einmal abwegig.

Der Mensch hat mit den Algorithmen ein sehr mächtiges Werkzeug geschaffen. Er muss sich fragen, wie viel Kontrolle er ihm übertragen will„, sagt der Data Scientist Klaas Wilhelm Bollhöfer.

Deep-Learning-Algorithmen werden dem Menschenschon bald viele Aufgaben abnehmen. Skype hat gerade einen Simultan-Übersetzervorgestellt. Algorithmen sind in der Lage, Objekte zu identifizieren, Gesichter zuerkennen, medizinische Bilder auszuwerten und Diagnosen zu stellen. 

Wir sind heute in der Lage, mathematisch-technische Werkzeuge zu entwickeln, deren Funktionsweise wir oft nicht mehr im Detail nachvollziehen können und von denen wir nicht ahnen, wofür sie später eingesetzt werden„, sagt Klaas Wilhelm Bollhöfer. 

Der Algorithmus lernt immer mehr zu denken wie ein Mensch, aber er wird dennoch nie menschlich.

Er hat keine Zweifel, er zögert nicht, er hat nie einen schlechten Tag, und genau das macht dem Menschen Angst, denn der Algorithmus wächst auch nie über sich hinaus, er vergisst nie die Vernunft, und er kann auch kein Auge zudrücken. 

Wenn der Algorithmus ein Mensch wäre, würde er nie zu lange bleiben, zu viel trinken oder unvernünftig viel Geld ausgeben. Es gäbe in seinem Leben keine Abenteuer. Er würde nie enttäuschen, aber auch nie überraschen. Man würde sagen: Er ist langweilig. 

Mensch hofft auf milde Entscheidungen

Menschlich wäre allenfalls, dass auch ein Algorithmus Fehler macht, wenn ihm schlechte Daten zur Verfügung stehen. Das kann auch dem Menschen passieren, aber er hofft auf sein Bauchgefühl und die Fähigkeit, die Umstände zu erkennen, Fehler zu sehen und sie notfalls zu korrigieren.

Er hofft auf eine milde Entscheidung, auch wenn sie gegen die Regeln ist. Dem Algorithmus traut er das nicht zu. 

Der Psychologe Daniel Kahneman erzählt in seinem Buch von einem weiteren Erlebnis bei der Armee. Während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 gab es ein Problem mit zwei Fluggeschwadern. Das eine hatte in den ersten Wochen der Kämpfe vier Flugzeuge verloren, das andere keins. Eine Untersuchung sollte die Ursache ans Licht bringen. 

Daniel Kahneman fand tatsächlich Unterschiede im Verhalten der Piloten. Einige fuhren zwischen den Einsätzen öfter zu ihren Familien. Die Nachbesprechungen verliefen anders. Möglicherweise hatte das Einfluss, und wahrscheinlich wäre es möglich gewesen, die Daten auszuwerten und eine Ursache zu finden.

Kahneman redete den Offizieren die Untersuchung trotzdem aus. Er wollte sie in dieser Situation nicht noch zusätzlich belasten. Er wollte ihnen nicht das Gefühl geben, die gestorbenen Piloten hätten Fehler gemacht. Den Offizieren sagte er, sie sollten die Befragungen einstellen. Sie müssten sich mit den Ergebnissen abfinden. Die Abschussquoten seien reiner Zufall. 

Den Text habe ich im Jahr 2015 für die inzwischen eingestellte Wired Deutschland geschrieben, wo er dann aber nie erschienen ist.  

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